Entkolonialisierung Algeriens -
Vor fünfzig Jahren begann der
Befreiungskampf
Lange haben die
Franzosen einen großen Bogen um dieses Kapitel ihrer Kolonialgeschichte
gemacht. Der Algerienkrieg Mitte des 20. Jahrhunderts wird erst seit ein paar
Jahren in seinen Schrecken und Folgen analysiert. Der blutige Befreiungskampf
der Algerier begann vor 50 Jahren, am 1. November 1954. Tina Gerhäusser
erinnert daran.
Unruhen statt
ruhigem Feiertag: Mitten in der Nacht zum katholischen Fest
"Allerheiligen" bricht in Algerien der Befreiungskrieg aus. Häuser
französischer Siedler und Wachposten gehen in Flammen auf. Fast zeitgleich
explodieren Bomben in der Hauptstadt Algier und anderen Städten der
französischen Kolonie Algerien.
"Der Krieg besteht aus einer übers ganze Territorium verstreuten Zahl
von einzelnen Militärmaßnahmen, mit denen folgende Botschaft übermittelt
werden soll: es ist nicht eine bestimmte Region oder ein bestimmter Stamm,
sondern die gesamte algerische Nation, die nun in den Krieg eintritt",
erklärt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hartmut Elsenhans.
Die Initiative liegt in der Hand der frisch gegründeten 'Nationalen
Befreiungsfront' - 'Front de Libération Nationale' (FLN). Die jungen
radikalen Mitglieder der algerischen Unabhängigkeitsbewegung wählen die Nacht
auf den 1. November 1954, um das Startsignal für den bewaffneten
Befreiungskampf zu geben: Die Befreiung von mehr als 120 Jahren
Kolonialherrschaft.
Muslime waren Bürger zweiter Klasse
Seit 1830 ist Algerien
französische Kolonie. Das Land ist in drei Departments eingeteilt und gilt
als französischer Boden. Aber die Menschen, die auf diesem Boden leben, haben
nicht die gleichen Rechte: die Muslime werden im Vergleich zu den
französischen Siedlern - genannt Pieds Noirs, das heißt Schwarzfüße - wie
Bürger zweiter Klasse behandelt.
Bis 1947 haben die neun Millionen muslimischen Algerier kein Wahlrecht. Der
Zugang zu den Universitäten und zu höheren Ämtern bleibt ihnen zumeist
verschlossen. Viele müssen als Landarbeiter für die Pieds Noirs auf den
Äckern schuften, die aber einst den Vorfahren der Landarbeiter gehörten.
"Arabisch ist meine Sprache, der Islam ist meine Religion, und Algerien
ist mein Land" - dieses Bekenntnis zur algerischen Nation hatte der
islamische Rechtsgelehrte Abdelhamîd Ben Bâdis formuliert. Spätestens Mitte
der 1930er Jahre wird es zum politischen Glaubensbekenntnis der algerischen
Unabhängigkeitsbewegung.
Forderung nach "Atlantikcharta"
Die Bewegung ist gespalten in
viele unterschiedliche politische Lager, doch ein blutiger Zusammenstoß mit
den Franzosen schweißt die verschiedenen Lager zusammen. Am 8. Mai 1945 ziehen
in Sétif, in der nördlichen Region Constantine, Demonstranten mit algerischen
Flaggen und Spruchbändern durch die Stadt. Sie fordern die Umsetzung der
"Atlantikcharta".
US-Präsident Franklin Roosevelt und der britische Premierminister Winston
Churchill hatten 1941 diese Charta entworfen, die für die Selbstbestimmung
aller Völker warb und zugleich ein wichtiger Schritt zur Gründung der UN war.
Die Franzosen fühlen sich von den Mai-Demonstranten provoziert und schießen
in die Menge. 88 Europäer und mindestens 10.000 Algerier sterben - ein
bitterer Empfang für die einen Tag später heimkehrenden algerischen Soldaten,
die im Zweiten Weltkrieg in Europa auf der Seite Frankreichs gekämpft hatten.
"Die Schrecken der Region Constantine vom Mai 1945 überzeugten mich
schließlich, dass es nur einen Weg gab: Algerien den Algeriern", so der
Bauernsohn Ahmed Ben Bella, der damals zu den Kriegsheimkehrern gehörte.
Gründung der 'Nationalen Befreiungsfront'
Ab diesem Zeitpunkt ist es für
einen friedlichen Kompromiss zu spät. Daran ändert auch das 1947 eingeführte
Wahlrecht für Muslime nichts. Zwar befürworten gemäßigte Anhänger der
algerischen Nationalbewegung, dass ein souveränes Algerien Teil einer
Französischen Union werden soll. Revolutionäre Nationalisten wie Ben Bella
und Messali Hadj geben jedoch den Ton an mit ihrer Forderung nach der
völligen Unabhängigkeit.
Mit Hilfe paramilitärischer Organisationen bauen sie ein geheimes Netzwerk
auf. Der ägyptische Geheimdienst unterstützt sie mit Waffenlieferungen. Am 31.10.1954
schließlich gründet sich per Manifest die 'Nationale Befreiungsfront'.
Das erklärte Ziel war "den Wiederaufbau eines demokratischen und
sozialen algerischen Staates im Rahmen islamischer Grundsätze"
herbeiführen - und zwar mit einem Aufstand am nächsten Tag, dem 1. November
1954. Die Französische Regierung in Paris ist von der Kampfansage völlig
überrascht.
"Algerien den Algeriern"
Laut Elsenhans dachte niemand in
London noch in Paris, dass die Entkolonisierung in Afrika südlich der Sahara
oder im arabischen Raum unmittelbar auf der Tagesordnung stehe:
"Im Mai 1954 glaubt man, dass die Entkolonialisierung in Asien
abgeschlossen ist, und dass in Afrika in Jahrzehnten mit einer schrittweisen
Übergabe der Unabhängigkeit zu rechnen ist. Und das wird durch den
Algerienkrieg ausgeschlossen, weil der nun als großer Katalysator des
Wunsches nach Unabhängigkeit im ganzen arabischen und in Schwarzafrika
fungiert."
Der algerische Befreiungskrieg dauert über sieben Jahre. Es ist ein langer
und blutiger Kampf ohne Sieger: als Frankreich seine älteste Kolonie am 5.
Juli 1962 in die Unabhängigkeit entlässt, hat Algerien ein Zehntel seiner
Bevölkerung verloren.
An die Spitze des unabhängigen Algerischen Staates wird einer der Anführer
des Befreiungsschlags vom 1. November gewählt: Ahmed Ben Bella. Sein Traum,
"Algerien den Algerien" zurückzugeben, hatte sich erfüllt.
Tina Gerhäusser
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004
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